Juni
Balett ist Kunst
Gesundheitsamt: ‚Ballett ist Sport‘.
Text: Götz Paschen / Fotos: Mark Intelmann
„Mit
einem Test könnten sie nachmittags zu mir. – Ich habe acht Mädchen aus
einer Klasse, die treffen sich morgens in der Schule. Wir könnten im
Studio kontaktlos mit drei bis vier Metern Distanz an die Stange. Aber
das Gesundheitsamt schickt mir als Antwort: ‚Sport ist nicht erlaubt.‘
Haben die überhaupt meinen Brief gelesen?“ Ines Güttel ist seit 29
Jahren Inhaberin des Ballettstudios Güttel in Rotenburg. Sie ist
Bühnentänzerin, Diplom-Ballettpädagogin, und sie ist sauer. Was würde
die Künstlerin veranlassen, wenn sie Kanzlerin wäre? „Die Ballettschulen
wären außerschulischer Unterricht und den Schulen gleichgestellt. Wenn
sie morgens in die Schule gehen, können sie auch nachmittags mit dem
Negativtest aus der Schule in den Ballettunterricht kommen. Mit
verringerter Teilnehmerzahl im wöchentlichen Wechsel zwischen online und
Präsenz ‚unter den gegebenen Bedingungen …‘ – diese Wörter kann ich
nicht mehr hören.“ Sie hat am 17.3.2020 zugemacht: ‚Schweren Herzens
habe ich heute vorläufig meine Ballettschule schließen müssen aufgrund
der Beschlüsse der Regierung.‘ Dann im Juni wieder geöffnet und wieder
abgeschlossen am 28.10. und seitdem durchgängig bis heute.
Ignoranz
Es
zeugt schon von Ignoranz, wenn Ballett von Amtsseite unter Sport und
nicht unter Kunst einsortiert wird. „Der Unterricht ist methodisch
aufgebaut. Die Schülerinnen durchlaufen bis zum Abi eine Tänzerlaufbahn.
Das ist keine Pillepalle. Ich bin keine Sportlehrerin. Ich bin Mitglied
in der Künstlersozialkasse. Ich werde vom niedersächsischen Ministerium
für Kultur als anerkannte Schule zur beruflichen Vorausbildung
angesehen. Da kommt man nicht so rein. Da musst du alle deine
staatlichen Diplome und Qualifikationen vorlegen.“ Güttel hat auch schon
zwei Jahre als Dozentin für klassischen Tanz an der EUMAC (European
Musical Academy) in Bremen gearbeitet. Sie ist stundenweise Tanzdozentin
an der HKS Ottersberg im Bereich Theater. Die Ballettpädagogin sitzt
vier bis fünf Stunden an der Vorbereitung einer Unterrichtseinheit von
45 Minuten für ihre Ballettschülerinnen. – Auch bei den Kleinen sind
alle Übungen eine Vorbereitung auf das Stangentraining. Die Stange
selbst wäre für die Kleinen als Startfeld zu langweilig. Die
Hauptstoßrichtung der Ballettschulen unter Corona ist die Anerkennung
der schulischen Leistung. Der deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik
e. V. (DBfT) setzt sich dafür ein, dass Ballettschulen nicht unter Sport
und Freizeit laufen. Eine Aktion vom Berufsverband hieß: ‚Wir können
den Spitzenschuh an den Nagel hängen.‘ Jede Schule sollte Merkel ein
Paket mit einem Spitzenschuh und einem Nagel schicken. „Das ist jetzt
schon der neunte Monat innerhalb eines Jahres, den wir schließen müssen.
– Es ist schon tapfer, in so einer Phase, den Mut hoch zu halten.“
KämpferinGüttels
Biografie hat ihr schon oft gezeigt, dass Kampfgeist und
Druchhaltevermögen sich auszahlen. Sie stand bereits nach ihrer Flucht
aus der DDR mit 24 Jahren vor dem Nichts. Krisen kennt sie. „Deswegen
geht das auch heute mit Corona. Man muss jetzt als Künstlerin das
Durchhaltevermögen haben und um seine Projekte kämpfen. Das Studio ist
mein Baby. Das hier ist meine kleine Ballettfamilie.“ Kurz vor der Wende
1989 ist sie von einer Besuchsreise im Westen nicht mehr heimgekehrt.
Die Silberhochzeit bei Verwandten in Freiburg hat sich die junge
Tänzerin damals gespart und ist gleich nach Gießen ins Aufnahmelager.
„Alleine ohne Rückfahrkarte, mit drei Westmark in der Tasche und sonst
nichts.“
RostockGüttel ist in Rostock geboren und war
schon früh an der Palucca-Schule in Dresden. „200 Kinder waren bei der
Aufnahmeprüfung. 16 wurden genommen und 8 haben absolviert.“ Das
Internat diente der Ausbildung zur Balletttänzerin und gehört zur
Palucca Hochschule für Künstlerischen Tanz in Dresden. Mit 19 Jahren
arbeitete sie schon am Landestheater Mecklenburg-Vorpommern /
Neustrelitz. „Ein tolles Theater, eine schöne Zeit!“ Danach hat sie
Ballettpädagogik an der Theaterhochschule Hans Otto in Leipzig studiert:
Choreographie und Tanzpädagogik, abrupt unterbrochen durch die Flucht.
Vom Auffanglager Gießen wollten sie sie weiterverfrachten. Aber Güttel
ist auf eigene Faust nach Bielefeld und hat sich von dort aus an der
staatlichen Ballettakademie in Köln beworben. Ihre Professorin in Köln
wurde Ursula Borrmann, die ebenfalls an der Palucca gewesen und aus DDR
geflohen war. „Meine Mutter musste in die Studentenbude nach Leipzig
fahren und Unterlagen aus der versiegelten Wohnung nachts rausholen.“
Die Staatssicherheit versiegelte Wohnungen von Westflüchtlingen. „Ich
hatte schon einmal in einer versiegelten Wohnung alles zurückgelassen.“
Damals hat sie bei einem Freund gewohnt, dem die Stasi aus politischen
Gründen die Wohnung zugemacht hatte. Und ihr gleichzeitig mit. Güttel
hat schon einigen Mist überstanden. So lässt sie auch unter Corona die
Flügel nicht hängen. Trotzdem ist ihre Begeisterung minimal: „Ich werde
immer unter Fitness, Sport und Freizeit einsortiert. Aber nicht unter
Kunst. Ballett ist unter Kunst einzuordnen. Ich bin keine Turnlehrerin,
sondern Diplom-Ballettpädagogin von einer staatlichen Hochschule.“
AbgrenzungDie
Angebote ihres Studios sind breit gefächert. Den Schwerpunkt bildet das
Ballett. „Wir sind nach klassischer Definition nur beim Ballett und im
Jazz-Dance in der Kunst. In der Ausbildung in der DDR war schon Jazz
grenzwertig. Alles, was aus Amerika kam, war nicht im Fokus.“ Als
Orientierung diente die russische Schule: Klassik, Klassik, Klassik,
Charakter, Folklore … „Jazz – das war was Besonderes.“ Ihr Studio bietet
über andere Fachlehrerinnen auch Funky Jazz, Breakdance, Hip Hop und
Pilates an. Und Kindertanz ab vier Jahren. „Die kleinen ‚Teppichratten‘
als Vorbereitung auf späteres klassisches Ballett. Mit sieben oder acht
gehen sie dann rüber.“ Sport oder nicht Sport, das ist hier die Frage.
Ballett und Jazztanz sind Kunst. „Bei jeder Anfrage beim Gesundheitsamt
will ich als außerschulische Bildungseinrichtung angesehen und dort auch
angesiedelt werden. Ich gebe auch Schülerinnen an die staatlichen
Schulen ab, die Tänzerinnen werden wollen.“ Güttel ist die Vor-Ort-Basis
für deren künstlerische Laufbahn.
InstitutionKunst
und Kultur sind ‚weiche Standortfaktoren‘. Der Begriff und der
Zusammenhang sind in den meisten Politikerköpfen noch nicht angekommen.
Brot und Spiele hieß es im alten Rom. Immerhin ist die Bundesliga wieder
am Ball. Wozu dann noch Hochkultur? Die Studioinhaberin kommt mit
Argumenten, die jeder sofort versteht, aber keiner umsetzt: „Was fragt
sich der Arzt, bevor er nach Rotenburg zieht, um hier im Krankenhaus zu
arbeiten: ‚Kann meine Tochter weiter Ballett tanzen? Kann mein Sohn
weiter Geige spielen?‘ – Insofern sehe ich mich schon als eine
Institution. Natürlich auch mit unseren Auftritten beim Stadtfest, bei
La Strada und unseren eigenen Produktionen. Das bereichert das Leben
hier.“ Da geht es ihr wie allen Künstlern, deren Arbeit angeblich
unwichtiger ist als Neuwagen, aktualisierte Badezimmergestaltung und
Amazon-Elektronikschrott.
Die ElternEs
gibt Austritte, weil es keine Öffnungsperspektive gibt. „Wir wissen
nicht, wann wir wieder im Präsenzunterricht sein können. Die
Ballettfamilie hält zu mir. Wer geht, das sind eher die Neuen.“ Die
kündigen, obwohl sie in Zahlpause sind. Die Zahlpause gilt für alle, die
online nicht mitmachen wollen. Nur die, die online wahrnehmen, zahlen
freiwillig. „Die meisten Eltern von Kindern, die über Jahre dabei sind,
sehen die Wichtigkeit der Kontinuität.“ Aber es gibt halt auch die
anderen. „Ich habe keine Hoffnung, dass wir vor den Sommerferien wieder
aufmachen dürfen. Wenn das September wird, kann ich komplett wieder von
vorne anfangen.“ Die Fahne hochzuhalten auch zum eigenen Vorteil, das
ist einigen Eltern nicht verständlich. Nur wer daheim online an der
Stange übt, ist nachher schnell wieder im Geschehen. Das Angebot ist
digital da, wird aber von vielen nicht wahrgenommen. Eltern, die das
Kind abmelden, sagen gar nichts oder häufig: ‚Unsere Tochter hat keine
Lust mehr.‘ „Normalerweise – ohne Corona – hast du Kündigungen und
gleichzeitig Neuaufnahmen. Das muss sich die Waage halten. Je länger
Corona dauert, umso mehr gerät das in eine Schieflage. Das ist eine
Katastrophe für so eine Institution in so einem Ort. Es ist spooky zu
sehen, wie es bröckelt. Völlig unverschuldet.“
OnlineDie
Mädchen stehen in den Kinderzimmern, Küchen, Kellern und Wohnzimmern
vor dem Bildschirm. Manche haben sich zu Weihnachten eine Ballettstange
gewünscht für das Online-Ballett zu Hause. Güttel hat sie alle als
Kacheln auf dem Bildschirm. „Und ein leerer Ballettsaal, in den ich
immer hinein renne, wenn ich etwas vorführe.“ ‚Hi Mädels, und jetzt
machen wir das so. Habt ihr verstanden?‘ „Dann machen die die Daumen
hoch. Teilweise siehst du im Bildschirmausschnitt dann den Kopf nicht.“
Die nächste Übung ansagen, Musik spielen, „ich renne wieder auf die
passende Distanz und mache etwas vor. – Bei den Kindern guckst du die
ganze Zeit in das Loch der Kamera rein und hast keine Interaktion.“
Kommt das jetzt an? Freuen die sich? Haben sie Spaß? Lernen sie was? –
‚Tschüss Mäuse!‘ Und dann ‚Tschüss Ines!‘ „Das ist immer ganz süß.“ Das
ist nicht das volle Erlebnis. Keiner weiß das besser als die
Ballettlehrerin selbst. Aber halb ist besser als gar nicht, wenn es
später weitergehen soll. Manchmal schreiben Eltern: ‚Die Kinder wollen
wieder gemeinsam tanzen und die anderen Kinder sehen.“
LebensfreudeDa
fehlt was. „Aber alle Ballettschulen bundesweit machen
Online-Unterricht. Das ist die einzige Möglichkeit, die wir haben.“ Die
Digitalisierung schreitet voran. Die Sinne werden weniger angesprochen.
„Ich finde, auch das Gemeinschaftliche geht weg. Die Menschen gehen sich
aus dem Weg. Sogar die Kinder gingen sich nach dem ersten Lockdown bei
uns aus dem Weg. – Das macht doch kein Kind. Das finde ich sozial
gefährlich, dass so etwas gelebt wird.“ Gemeinsam im Saal zu stehen,
lachen, Spaß zu haben. Interaktion zwischen Gesichtern. Wie kommt das
an, was man zeigt? „Das hast du online gar nicht. Keiner nimmt sich zur
Begrüßung in den Arm und drückt dich. Das finde ich kritisch. – Du hast
auch keine Kontrolle, ob die das richtig machen. Ich bin da sehr
ordentlich und konsequent. Und die Korrekturen am Körper gehören zum
Ballett dazu – das geht online nicht.“ ‚Ich möchte dich da rausziehen
aus dem Kasten und deinen Fuß richtig stellen.‘ Die Körperlichkeit
schwindet. „Ich habe schon am Theater das Gemeinschaftsgefühl so
geliebt. Dass sich die Sparten gegenseitig ergänzen. – Auch die drei
Worte mit den Eltern fehlen dir.“
Tanz & CoTanz
ist auch Schweiß, Körpernähe, Intensität. Ballett ist da anders: „Da
habe ich nichts mit zu tun. Ich mache nur alles, was Bühnentanz ist. Wir
müssen im Training nicht die Paarfiguren mit anfassen üben. Wir haben
keine großen Männer, die die Frauen tragen können. Und zu Corona müsste
das jetzt auch nicht sein. Ich würde auch mit Maske arbeiten, wenn ich
dann wieder aufmachen dürfte.“ Den Tanz trifft es von allen Kunstarten
am stärksten. Wie könnten sichere Aufführungen von Profis aussehen? „Ich
habe mir privat im August 2020 ein Ballett an der Deutschen Oper in
Berlin angesehen.“ Versetzte Platzanordnung, mit Maske bis zum Platz,
der Imbiss draußen, keine Pause. „Es war nicht so ein schöner
Theaterbesuch. Wir haben es trotzdem genossen. Wenn du theateraffin bist
und Kunst gucken willst, ist das ein Höhepunkt.“ Permanent sechs bis
acht Tänzer auf der Bühne. „‚Pas de deux‘ (Schritte zu zweit, Anm. pas)
habe ich dort auch gesehen, aber es war ein Ehepaar, das das getanzt
hat. Die durften.“ Dann war sie noch in den Oktoberferien bei einem
Musical in der Oper in Leipzig. Das lief genauso ab.
AufführungenNeben
dem Thema Ausbildung steht Güttels Studio auch für Bühnenaufführungen
im Ballettbereich. Zum Beispiel 2017 zum 25-jährigen Schuljubiläum
‚Peter und der Wolf‘. Im Herbst 2019 mit dem renommierten Hamburg
Ballett John Neumeier im BMW-Autohaus in Buchholz an der B75. Die
Hamburger haben alles mitgebracht: Bühne, Solisten … Es war eine
Zusammenarbeit mit drei Ballettschulen aus Buchholz, Stade und
Rotenburg. „Wir in der ersten Halbzeit und die Hamburger in der zweiten.
– Das sollte 2020 wieder stattfinden und ist natürlich ausgefallen.“
Der Motor war hier der Kulturverein Buchholz. Alle drei bis vier Jahre
bringt Güttel mit ihren Eleven eine große Geschichte auf die Bühne.
„Letztes Jahr wäre ich wieder dran gewesen und nochmal Neumeier in 2020.
Aber dann konnte man nichts mehr planen.“ Was steht in Zukunft an? „Das
werden wir sehen, wenn ich noch Schüler habe am Ende des Jahres“,
erklärt sie etwas sarkastisch. Eine Künstlerin, die in der Ausbildung
von Disziplin und Motivation lebt. Für das Ballett in Rotenburg! „Reiten
und Tennis geht gerade noch als Sport. Das sind meine großen
Konkurrenten.“ Die Kinder sind onlinemüde. „Nur ich auf dem Display für
Sechs- bis Siebenjährige. Da ist es draußen auf dem Pferd besser, als
alleine im Kinderzimmer vor dem Handy Ines zu gucken.“
Liefern!„Es
geht mir darum, dass ich meinen Beruf wieder ausführen kann.“ Die
Vorteile vom Ballett seien neben dem Ausbildungsaspekt: Die Schülerinnen
halten sich in Bewegung, treffen ihre Freunde, haben Gemeinschaft. „Und
nicht jede tanzt in ihrem stillen Kämmerlein.“ Ab wann wird die
Ballettbrache wieder beackert? „Erst dachte ich, wir müssten nur noch
ein bis zwei Monate durchhalten.“ Ab Februar hat sie dann doch auch für
die Kleineren ab sechs/sieben online angefangen. Die Tanzmäuse ab vier,
das sei online illusorisch. „Es ist ohne direkte Interaktion viel
schwieriger als im Präsenzunterricht. Du musst viel mehr unterhalten. Du
stehst permanent vor dem Kasten und musst liefern.“ Die ganze Zeit
erzählen, viel mehr vormachen als im Präsenzunterricht. „Die Kleinen
stehen da manchmal mit ihrem Teddy. – Die Großen wissen schon, was sie
zu tun haben. Die Korrektur ‚rechte Schulter‘ setzen sie automatisch
um.“ Die Pilateskurse liefert die Mitarbeiterin Carola Reimelt auch
online ab. Entsprechend auch Steffi Harbord ihre Ballettkurse und
zusätzlich auch Street-Dance und Funky-Jazz. „Montag bis Mittwoch ich,
Donnerstag und Freitag Steffi. Wir teilen uns den Stundenplan.“
GesundheitsamtDer
Berufsverband DBfT fordert „… die grundsätzliche Einordnung von Schulen
für künstlerischen Tanz in den außerschulischen Bildungsbereich und die
gegenwärtige Zulässigkeit des Unterrichts.“ Güttel wendete sich
wiederholt an das Gesundheitsamt des Landkreises mit langen Schreiben
und guten Argumenten. Irritiert ist sie über das wiederholte
Missverständnis, dass ihre Arbeit dort permanent unter Sport eingeordnet
wird und über die Antworten: „… Hinsichtlich der Sportausübung hält die
Landesregierung folgende Antworten vor: …“ In den Schreiben steht
permanent die Vokabel Sport und nicht Kunst. – Sollten Sie also nach
Corona wieder ins Werderstadion gehen oder in die Oper zum Ballett,
denken Sie daran: Es ist beides Sport.
StrategieGüttel
hat aktuell Zeit für ihre Hobbys Literatur und Film. Daneben ist sie –
wie alle ernstzunehmenden Künstler/innen – gedanklich permanent
unterwegs und sucht Lösungen. Als „Voyeur in der Facebookgruppe
Tanzschulinhaber“. Und zusätzlich ist sie mit vier Kollegen bundesweit
im Austausch und Strategiegespräch. – Seit 1992 gibt es das
Ballettstudio Güttel – „immer alleine finanziert ohne Fördergelder“. Die
Honorarkräfte kriegen wie vor Corona weiterhin ihre Stunden bezahlt.
„Wir haben Kurse zusammengelegt, damit das auch alles noch
wirtschaftlich ist. Es gibt Kündigungen. Nicht alle wollen online
Unterricht haben. Die halbe Schule findet nicht statt und ist in
Zahlpause. Ich versuche gerade, den Betrieb aufrecht zu erhalten.“ Sie
hat von einigen Künstlern gehört, die beruflich ausweichen. „Die haben
sich andere Jobs gesucht, als Paketfahrer oder ähnliches. Jetzt schmeißt
die Künstlersozialkasse die raus. – Ich bin da noch drin.“ Auch bei der
Künstlersozialkasse in Wilhelmshaven fehlt offensichtlich eine
intelligente Coronastrategie für die Zwischenbeschäftigung ihrer
Mitglieder.
Kulturpause
Wer hält die
Kultur aufrecht in dieser Pause? „Das kriegen wir meiner Meinung nach
digital nicht hin. Wenn ich Fernsehen gucken will, gucke ich Fernsehen.
Aber ich gucke mir ungern eine Oper oder ein Ballett im Fernsehen an.
Das will ich live sehen. Das ist eine ganz andere Atmosphäre. Das ist
wie bei einer Lesung. Das kulturelle Nicht-Stattfinden finde ich
kritisch.“ Ihrer Meinung nach könne man im Kunst- und Kulturbetrieb bei
Aufführungen viele Hygienemaßnahmen besser einhalten als in Bus und
Bahn, im Flugzeug oder im Schlachthof. „Und man gibt den Menschen etwas
für die Seele.“ Nächstes Jahr hat Güttels Ballettstudio 30-jähriges
Jubiläum. Sie ist von ihren Online-Lösungen nur teilbegeistert, weiß
aber, dass dieses Vehikel ihre Schule rettet, bis es wieder losgeht.
„Die Gruppen digital, das läuft, aber ich bin so gar kein digitaler
Mensch. Ich mag das überhaupt nicht.“ Güttel hat ganz treue
Schülerinnen. „Manche sind schon seit 29 Jahren dabei. Meine 70-jährige
Uta nimmt keinen Online-Unterricht und zahlt trotzdem den Beitrag
weiter. Damit es unser Angebot auch noch nach Corona gibt.“ Das sind die
Signale und das Geld, das die Kunst gerade braucht. Güttel ist
hartnäckig und bei aller Skepsis zuversichtlich. „Ein gewisser Stamm
wird bleiben. Der grobe Kern. Die Kernballettfamilie nehme ich mit.“ Was
nichts daran ändert, dass es sehr hilfreich wäre, wenn auch das
Gesundheitsamt versteht, dass Ballett Kunst ist und kein Sport.
Torftipp: Vor
28 Jahren zahlte mir einer der ersten Abonnenten auf dem
Weihnachtsmarkt in Fischerhude das Abo gleich für fünf Jahre im Voraus
in bar. Ich dachte damals: ‚Ob es uns dann noch gibt? Der ist klasse,
der glaubt an uns.‘ – Egal, wo Sie mit der Kunst zu tun haben, setzen
Sie Zeichen. Und das geht am besten mit dem Portemonnaie.